Die Covid-Pandemie überschattete 2020 medial viel. Selbst wenn über besondere Ereignisse berichtet wurde, blieben sie selten länger in den Köpfen der Menschen als bis zum Bericht der neusten Inzidenzzahlen. Das war zwar wichtig und meistens auch notwendig, führte aber auch dazu, dass sich soziale Debatten nur noch auf die Pandemie fokussierten. Die zahlreichen Schließungen und Ausgangsbeschränkungen verhinderten einen vielseitigen öffentlichen Diskurs. Besonders schwer von diesen Maßnahmen betroffen, waren auch die vielen Theater, die seit jeher ein Spiegel der Gesellschaft sind und immer wieder neue Diskussionen anstoßen. Nachdem das schlimmste der Pandemie jetzt wohl hoffentlich hinter uns liegt, versuchen die Theater natürlich nachzuholen, was im letzten Jahr nicht möglich war. Dabei hatte ich die Gelegenheit, eine besondere Inszenierung am Theater Erlangen zu sehen.
Das dokumentarische Stück „Protest4“, mit dem die Regisseurin Anastasija Bräuniger die Jury des Regienachwuchswettbewerbs des Theaters unter dem Motto „Umbrüche“ überzeugte, beschäftigt sich mit drei Protestbewegungen in den Jahren 2019 und 2020, die nur teilweise die mediale Beachtung gefunden haben, die sie in meinen Augen hätten bekommen müssen.
Ursprünglich hatte das Stück bereits am 12.9.2020 Premiere. Weitere Vorstellungen mussten aber aufgrund der Pandemie und der daraus resultierenden Schließung der Theater verschoben werden. Deswegen wird es jetzt überarbeitet und aktualisiert erneut aufgeführt. Die drei behandelten Proteste sind die Demonstrationen in Hongkong gegen das geplante und inzwischen leider mit Gewalt umgesetzte Auslieferungsgesetz, sowie die Demonstrationen gegen soziale Ungleichheiten und Korruption in Santiago de Chile und Beirut.
Das Stück selbst begann anders als ich erwartet hatte, mit einer Ausstellung auf der Bühne, durch die man langsam zu den Sitzplätzen geleitet wurde. Gezeigt wurden Gegenstände, die auf den Protesten Verwendung fanden. Die meisten kamen direkt aus den jeweiligen Städten, einige wenige aus dem Fundus des Theaters. Es wurden Flaggen (viele, wie die „Liberate Hong Kong, revolution of our time“ – Flagge, sind inzwischen in den jeweiligen Ländern verboten), Kleidung, Gasmasken, Patronenhülsen, Gummigeschosse und natürlich Regenschirme präsentiert. Im Laufe der Stückentwicklung stand das Team um Anastasija Bräuniger in stetigem Kontakt mit Menschen vor Ort. Diese versorgten sie nicht nur mit besagten Gegenständen, sondern auch mit Videos und privaten Einblicken in das Leben zur Zeit der Proteste. Amanda aus Santiago de Chile, Bernard aus Beirut und E aus Hongkong kamen dabei im Stück immer wieder selbst in Interviews und kurzen Videobotschaften zu Wort.
Die beiden SchauspielerInnen Max Mehlhose-Löffler und Nina Völsch wechseln im Laufe des Stücks stetig ihre Rollen. Mal sind sie sie selbst, mal nur stumme Beobachter oder treten als eine der drei Kontaktpersonen auf. Durch dieses Wechselspiel zwischen den SchauspielerInnen, ihren Rollen und Videos verschwimmt die Grenze zwischen Dokumentierenden und Dokumentierten. Oft habe ich mich selbst dabei erwischt, wie ich mir vorstellte, auf einer der Demonstrationen zu sein und mich zu fragen, was ich getan hätte, wenn ich in der gleichen Situation wie die gezeigten Menschen gesteckt hätte. Oft war ich dabei etwas überfordert, wahrscheinlich ähnlich wie die Protestierenden selbst. Beeindruckend waren auch die fünf Leinwände, auf denen zum Teil gleichzeitig unterschiedliche Proteste gezeigt wurden und die geschickt das Schauspiel begleiteten und ergänzten.
Im Laufe des Stückes wird schnell klar, dass Anastasija Bräuniger weniger versucht, einfache Antworten zu geben, als die richtigen Fragen zu stellen. Wie fühlt man sich, wenn die Welt vor der eigenen Tür plötzlich zu brennen anfängt? Was bewegt einen Menschen dazu, diese Proteste nicht nur zu beobachten, sondern sich ihnen anzuschließen? Und wie geht man auch mit extremen Strömungen innerhalb der Demonstranten um? Ausgehend von den Gedanken und Erlebnissen der Kontaktpersonen stellt man sich unweigerlich die Frage: Was hätten Einzelpersonen oder die Regierung in Deutschland tun müssen? Wenn man die Ergebnisse der drei Proteste anschaut, war das, was getan wurde, nicht genug. Beirut, geht es schlechter denn je, vor allem auch nach der verheerenden Explosion im Hafen. China hat Hongkong inzwischen so fest im Griff, dass sich E nur noch anonym traut, im Theaterstück mitzuwirken. Immerhin hat die Regierung in Chile dem Druck der Demonstranten nachgegeben und bereitet nun eine neue Verfassung vor, der Erfolg dieser Reformen ist aber noch ungewiss.
Die Proteste weisen viele Gemeinsamkeiten auf, oft haben sie sich sogar gegenseitig inspiriert. Durch die sozialen Medien war es den Menschen ein Leichtes, sich zu organisieren und gegenseitig Tipps zu geben, wie man sich z.B. am besten gegen Wasserwerfer schützt und Tränengasgranaten unschädlich macht. Proteste wie diese wird es noch öfter geben. Ich kann nicht sagen, was das richtige außenpolitische Handeln sein wird, aber ich weiß, dass dafür ein öffentlicher Diskurs notwendig ist. Und wo kann man den besser starten als im Theater?
Ich hätte noch deutlich mehr über dieses besondere Stück berichten können, aber das würde zu viel verraten. Ich kann nur jedem raten, es selbst zu sehen. Die Vorführungszeiten findet man hier.