Der Olivenbaum in Sindschar

Wenn ich mir bildlich ausmalen würde wie Dresden, Hiroshima oder Nagasaki nach der völligen Zerstörung im zweiten Weltkrieg aussahen, so brauche ich nur auf Sindschar vor mir blicken. Die Hauptstadt der Jesiden, gelegen in der Autonomieregion Kurdistan, im Nordirak. Wir fahren vorbei an ausgebrannten Fahrzeugen. Zerstörten Geschäften. Zerbombten Häusern. Die Krater der abgeworfenen Bomben sind überall zu erblicken. Eine Art Staubwolke hängt über der Stadt. Militärfahrzeuge kreuzen ständig unsere Wege.

Immer wieder, nur ab und zu unterbrochen von Lärm, vernehme ich eine düstere, fast schon irritierende Stille, die wie eine Glaskuppel die fast völlig zerstörte Stadt umgibt. Sprichwörtlich umgibt ein Hauch des Todes die Stadt.

Bei unserem Marsch erblickte ich mehrere teils verkohlte Leichen. Neben ihnen liegen ebenfalls tote Hunde, teilweise nur noch stückchenweise vorhanden, die am Fleisch derer nagten, welche ihr Leben verwirkt haben. Der Geruch von verbranntem Fleisch, süßlich und irritierend, steigt mir in die Nase. Ich nehme dies alles emotionslos war. Fotografiere, dokumentiere, erfasse und funktioniere. So wie ich es gelernt habe. Funktionieren gehört in einem Krieg dazu. Das Ausblenden von Gefühlen, ein Schutzmechanismus. Krieg ist ein System welches Regeln hat, die einem übergestülpt werden. Ich sehe nicht zum ersten Mal die Resultate kriegerischer Handlungen. Und es ist nicht das erste Mal, dass ich in die zahlreichen Gesichter derer Blicke, die kein Gesicht mehr haben. Weil diese gänzlich abgenagt, verbrannt oder einfach vom Rumpf getrennt wurden.

Und doch konnte ich nicht verhindern, dass mich eine Gefühlsregung überkam, als ich die Überreste eine IS – Kämpfers erblickte. Oder besser gesagt, was von ihm übrig war. Was sollten mich eigentlich die Überreste dieser Bestie interessieren, die mit Freude Frauen und Kinder abgeschlachtet hat, deren Überreste ich zuvor in einem jesidischen Massengrab in Augenschein nehmen durfte.

Ja, was sollte mich diese gottverlassene Leiche, angenagt und halb verwest auch interessieren?

Nur ein Toter mehr, der es verdient hatte zu sterben.

Und doch überraschte mich ein Fundstück, ein Gegenstand, welcher neben dem Toten lag. Eine Tatsache, deren Entdeckung mich in meinem Innersten zerriss. Das was ich erblickte gab dieser halbverwesten, halbverkohlten Leiche einen Namen. Eine Farbe. Eine Identität. Ein Leben.

Ich wollte wegschauen und es nicht wahrhaben. In meinem Innersten verbergen. Die Augen verschließen. Sie nicht mehr öffnen, weil es die Illusion von dem zerstören sollte, was mein Bild von diesen „Monstern“ prägte.

Neben der Leiche dieses Menschen fand ich ein Fotoalbum. Darin zu finden waren Bilder. Bilder der Familie, der Ehefrau, der kleinen Tochter, der Kinder. Ein Leben, wie es in jeder Familie sein könnte. Das Grauen bekam einen Namen. Es verflüchtigte sich teilweise. Und doch nagte es an mir weiter. Im Unverständnis, dass Menschen, die in diesem Augenblick keine Bestien waren, andere Kindern so viel Grausames antun konnten.

Bedrückt ging ich meiner Wege, um eine der völlig zerstörten Kirchen in Sindschar in Augenschein zu nehmen. Die Syrisch-Orthodoxe Marienkirche oder besser gesagt, das was davon übrig ist, lag auf meinem Weg. Vorsichtig tastete ich mich vor. Ich wollte sicherlich kein vorschnelles Ende finden und den Extremisten einen Gefallen tun, indem ich in ihre Sprengfallen, die in den Nebengebäuden der Kirche aufgestellt wurden, hineinlaufe. Von der Kirche ist so gut wie nichts mehr übrig. Ich fand ein Kreuz aus Metall, welches ehemals als Zierde diente. Ich richtet es auf, betrachtete es und betete. In meinem Gebet ertappte ich mich dabei, wie sich meine Gedanken um die Familie des toten IS – Kämpfers drehten, dessen Familienalbum ich sah. Ich fragte mich, wie es seiner Tochter, seiner Ehefrau ging. Ich schloss sie in mein Gebet ein, weil sie es verdient haben zu leben. Sie sind Menschen und Kinder Gottes. Und wenn es in dieser Stadt fast kein Leben mehr gab, so wollte ich es wenigstens denen wünschen, die Opfer aller Kriege sind, egal ob Muslime, Christen oder Jesiden.

Und in dem Moment kam Gabriel auf mich zu, mein christlicher Begleiter.

Er zeigte auf einen Olivenstrauch, den ein Mönch vor Jahren gepflanzt hatte.

Das Gewächs ist, ich traute meinen Augen nicht, völlig intakt.

Es lebt, es atmet, mitten in dieser Hölle des Krieges.

Und spendet Trost.

In seiner Goldwerkstatt, in der Mitarbeiter verschiedenster Konfessionen wirken, säubert er gerade Silberschmuck aus dem 18. Jahrhundert, das für eine Kirche bestimmt ist, welche gerade neu restauriert und wiederaufgebaut wird. Mit Hilfe einer muslimischen Rechtsanwältin und langwierigen Verhandlungen hat man es geschafft, die Behörden davon zu überzeugen, die Genehmigung für einen Restaurierung zu erteilen.
 
Das Gebäude, welches historische Züge aufweist, befindet sich im südostanatolischen Mardin, einer christlich historischen Stadt und soll der syrisch-katholischen Gemeinde als neuer sakraler Ort dienen. 
 
Der Goldschmied, dessen Gesichtsauszug von Falten durchzogen und den Spuren schwieriger Verhandlungen geprägt ist, freut sich dennoch über diese in der Türkei nicht selbstverständliche Entwicklung. Mit viel Herz und privatem finanziellen Engagement ist er bei der Sache. Erstaunt über solch eine Entwicklung musste ich über die Hintergründe schmunzeln, welche die Behörden letzten Endes dazu bewegten, die Genehmigung für die Neuausrichtung der Heiligen Maria Kirche zu erteilen.
 
Das Gebäude fand bis vor kurzem noch Verwendung als Erotik-Kino. Dem Argument, dass im Umkreis von 50 Metern um Moscheen herum kein Alkohol verkauft werden darf und Erotik im allgemeinen verbannt wird, aber ein sakraler Ort des Christentums für den Genuss erotischer Freuden missbraucht wird, schien die Behörden vollends davon überzeugt zu haben, der Bitte um eine Restaurierung zu folgen.
 
Stolz erzählt mir Rizkullah von dieser neuen Entwicklung, welche ihm Hoffnung gibt für den Dialog mit den Religionen und Kulturen. War es doch eine muslimische Anwältin, welche die Behörden gerade auf diese Tatsache hingewiesen hat.

Buchtipp:

Seit Jahren reist Simon Jacob durch Länder wie Syrien, Irak oder Iran. Als Angehöriger eines wichtigen Clans gelangt er an Orte, die für andere nie zuganglich waren. Dort spricht er mit Menschen, immer auf der Suche: der Suche nach Frieden, auch seinem eigenen Inneren. Seine Reise schildert auch die Schrecken dieser Kriegsgebiete. Aber mehr noch zeigt dieses Buch, dass und wie Friede wirklich möglich ist. Eine Botschaft, die vor allem in diesen Tagen Mut und Hoffnung macht und motiviert, zu kämpfen für eine bessere Zukunft und für etwas, was Simon Jacob ausgerechnet im Irak und in Syrien wiedergefunden hat: Menschlichkeit.

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Simon Jacob

Simon Jacob (1978 in Tur Abdin, Türkei) kam als Kind nach Deutschland, wo er eine kaufmännische Ausbildung absolvierte und später in verschiedenen Führungspositionen der IT- und Technologiebranche arbeitete. Seine berufliche Laufbahn umfasste u.a. Positionen im Projektmanagement und der Marktforschung mit Schwerpunkten in Automotive, Sensorik und Digitalisierung. Neben seiner Karriere engagierte sich Jacob ehrenamtlich als Integrationsbeauftragter der Syrisch-Orthodoxen Kirche und war Vorsitzender des Zentralrats Orientalischer Christen in Deutschland. 2015 initiierte er die „Peacemaker-Tour“, ein journalistisches Projekt, bei dem er Krisenregionen im Nahen Osten bereiste, um den interkulturellen Dialog zu fördern und auf die Lage religiöser Minderheiten aufmerksam zu machen. Seine Erfahrungen und Einsichten, vor allem zu Demokratie und Menschenrechten, teilt er in Artikeln, Vorträgen und seinem bald erscheinenden Buch.
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