Die Welt im Idealistenwahn

Simon Jacob ist mehrere Monate durch den Nahen Osten gereist. Jetzt hält er einen Vortrag zum Thema Radikalisierung. Mit der Rundschau führte er ein Gespräch.

Von Lucia Pirkl

Interview der Mittelbayerischen Zeitung / Rundschau vom 15.3.2017 mit Simon Jacob

Abensberg. Im Rahmen des von ihm initiierten Projektes „Peacemaker-Tour“ legte Simon Jacob 2015/2016 als Friedensbotschafter des Zentralrates Orientalischer Christen und freier Journalist in rund fünf Monaten über 40 000 Kilometer zurück und besuchte neben der Türkei, Georgien, Armenien und dem Iran auch die Krisengebiete in Nordsyrien und Nordirak. In Abensberg referiert der Münchner nun über die Ursachen von Radikalisierung.

Herr Jacob, was hat auf Ihrer Reise den größten Eindruck hinterlassen?

Simon Jacob: Besonders beeindruckt hat mich die Tatsache, dass Muslime, Sunniten als auch Schiiten, Geistliche, Soldaten als auch einfache Menschen die Gewalt in der eigenen Religion hinterfragten und den Mut fanden, dies, trotz aller real existierender Gefahren, auch anzusprechen.

Und was hat Sie erschüttert?

Jacob: Dunkel und erschütternd waren die Besuche im Irak und in Syrien dann, wenn es Massengräber zu dokumentieren gab, wenn zerbombte Landschaften, übersät mit Leichen und dem Geruch von verbranntem Fleisch, meine Wege kreuzten. Und besonders tief traf es mich, wenn ich mit den Überlebenden des Krieges, den Schwächsten und Unschuldigsten, nämlich Frauen und Kindern, zusammentraf.

Was sind, Ihrer Meinung nach, die Ursachen für Radikalisierung im Nahen Osten?

Jacob: Demografische Entwicklungen haben in den nahöstlichen Staaten zu einer Verdreifachung der Bevölkerung geführt. Daraus resultierend sucht eine hauptsächlich junge Gesellschaft nach Perspektiven – in einem Umfeld, in dem weder die Infrastruktur noch die Wirtschaft im notwendigen Verhältnis mitgewachsen ist.

Hinzukommen sowohl ethnische als auch konfessionelle Auseinandersetzungen, besonders im Zusammenhang mit patriarchalischen Clanstrukturen, die ein Weiterkommen erschweren. In nahöstlichen Gesellschaften können junge Männer erst dann heiraten und eine Familie gründen, wenn sie eine entsprechende wirtschaftliche Basis vorweisen können. Ist dies nicht der Fall, führt das zu sexueller Frustration, die in einem Umfeld mit sexuellen Tabus den Aggressionsgrad immens nach oben schraubt.

Warum entscheiden sich westliche Kämpfer für den IS?

Jacob: Nicht der materielle Hintergrund ist ausschlaggebend. Es ist eher eine Mischung aus der Enttäuschung gegenüber einer konsumorientierten Gesellschaft, in der sie keinen Sinn finden und sich auch nicht zugehörig fühlen und geringem Selbstbewusstsein, kombiniert mit dem Gefühl, nicht anerkannt zu werden.

Wo könnte man, Ihrer Meinung nach, ansetzen, und vor allem wer könnte ansetzen?

Jacob: Man muss die Sexualität enttabuisieren und die Frau von der Verantwortung über die Ehre der Familie, des Clans und der Gesellschaft entkoppeln, verbunden mit einer uneingeschränkten Gleichstellung zwischen Mann und Frau. Infrastrukturprogramme, wirtschaftliche Förderung und Stärkung der Bildung, bei gleichzeitiger Bekämpfung der Korruption sollten Fluchtursachen reduzieren oder gänzlich verschwinden lassen.

Was könnte man bei uns unternehmen, um die Radikalisierung von bestimmten Gruppen zu verhindern?

Jacob: In Europa und im Westen im Allgemeinen werden wir theologische Lehrzentren aufbauen müssen, die einen Islam lehren, der mit einer Demokratie und den universellen Menschenrechten vereinbar ist – als Gegenmodell zum ultraorthodoxen wahabitisch – salafistischen Modell, das durch die finanzielle Potenz arabischer Staaten in die ganze Welt exportiert wird und am Ende teilweise auch in den Moscheen bei uns gepredigt wird.

Ist bald wieder eine Reise geplant?

Jacob: Ja. Da das ganze Projekt immense Wellen geschlagen hat, haben wir einen gemeinnützigen Verein gegründet, der weitermacht. Die nächsten Ziele sind Ägypten, Israel/Palästina, Russland, der Libanon, Jordanien, Tschechien um nur einige zu nennen.

 

Zur Person:

Simon Jacob, 1978 im Tur Abdin (Südosttürkei) geboren, kam als Kind mit seinen Eltern aufgrund der religiösen und ethnischen Spannungen nach Deutschland. Durch seine zahlreichen Reisen und Kontakte sowie Reportagen für ARD und ZDF ist er hervorragend informiert über die Entwicklungen im Nahen und Mittleren Osten und in Deutschland.

Buchtipp:

Seit Jahren reist Simon Jacob durch Länder wie Syrien, Irak oder Iran. Als Angehöriger eines wichtigen Clans gelangt er an Orte, die für andere nie zuganglich waren. Dort spricht er mit Menschen, immer auf der Suche: der Suche nach Frieden, auch seinem eigenen Inneren. Seine Reise schildert auch die Schrecken dieser Kriegsgebiete. Aber mehr noch zeigt dieses Buch, dass und wie Friede wirklich möglich ist. Eine Botschaft, die vor allem in diesen Tagen Mut und Hoffnung macht und motiviert, zu kämpfen für eine bessere Zukunft und für etwas, was Simon Jacob ausgerechnet im Irak und in Syrien wiedergefunden hat: Menschlichkeit.

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Picture of Simon Jacob

Simon Jacob

Simon Jacob (1978 in Tur Abdin, Türkei) kam als Kind nach Deutschland, wo er eine kaufmännische Ausbildung absolvierte und später in verschiedenen Führungspositionen der IT- und Technologiebranche arbeitete. Seine berufliche Laufbahn umfasste u.a. Positionen im Projektmanagement und der Marktforschung mit Schwerpunkten in Automotive, Sensorik und Digitalisierung. Neben seiner Karriere engagierte sich Jacob ehrenamtlich als Integrationsbeauftragter der Syrisch-Orthodoxen Kirche und war Vorsitzender des Zentralrats Orientalischer Christen in Deutschland. 2015 initiierte er die „Peacemaker-Tour“, ein journalistisches Projekt, bei dem er Krisenregionen im Nahen Osten bereiste, um den interkulturellen Dialog zu fördern und auf die Lage religiöser Minderheiten aufmerksam zu machen. Seine Erfahrungen und Einsichten, vor allem zu Demokratie und Menschenrechten, teilt er in Artikeln, Vorträgen und seinem bald erscheinenden Buch.
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